Es gibt viel zu tun – hau’n wir ab.
Interaktive Installation
mit Robert Verch
2014
Es gibt viel zu tun – hau’n wir ab ist Intervention, gesellschaftliches Experiment und Ausstellungsprojekt zugleich. Der entscheidende Schauplatz von all dem bleibt physisch unzugänglich. Dichter Efeu hat sich bis in die dritte Etage vorgearbeitet und nahezu komplett die Fenster einer Chemnitzer Zweizimmerwohnung erobert. Ihr Bewohner ist seit langem verschwunden.
Wie eine Zeitreise wirken Einblicke in die voll möblierten, unberührten Privaträume des Herrn U. Die spürbare Präsenz des Abwesenden jedoch erzeugt eine Intimität von solcher Heftigkeit, dass Neugier und Schuldgefühle beim Eindringen in die vergessene Wohnung unentwegt miteinander ringen. Im Dämmerlicht lässt sich erahnen, wie das dort geführte Leben ausgesehen haben muss: Liebevoll und verzweifelt zugleich erzählen eigenwillige Gegenstände, persönliche und bürokratische Korrespondenz, Arrangements aus Kitsch und klobiger Sachlichkeit eine Überlebensgeschichte der Nachwendezeit. Nichts weist darauf hin, wie die Fortsetzung gelaufen sein mag. Das Hab und Gut des ehemaligen Mieters ist so beiläufig angeordnet, als wollte er gleich zurückkommen. Doch als Herr U. an jenem unbestimmten Tag die Tür schliesst, hält die Zeit in seiner Wohnung an. Allmählich wächst nicht nur der Efeu, sondern auch das sprichwörtliche Gras über Mietschulden und Gerichtsbescheide. Eine leichte Staubschicht liegt über allem. Was kann der Grund sein, eine Wohnung so zu hinterlassen?
Die Untersuchung
Vom 04. bis 06. April 2014 stolpern die Jubiläumsgäste des Lokomov Chemnitz, die bis zu den Nebenräumen des Klubs vordringen, in eine bizarre Szenerie. Eine fest eingebaute, dominante Station, deren technische Ausstattung alle Möglichkeiten zur ferngesteuerten Untersuchung jener Wohnung bereithält, zieht mit neun verschiedenen Kamerabildern und der Steuerung eines Roboters Neugierige in ihren Bann. In der Grauzone zwischen futuristischer Innenarchitektur und profaner Arbeitsumgebung hergerichtet, lässt die Untersuchungszentrale keine eindeutigen Rückschlüsse auf mögliche Urheber*innen oder reguläre Angestellte zu. Während manche der unvorbereiteten Besucher zögerlich den Raum erkunden, erliegen andere unmittelbar der Sogwirkung der beinahe computerspielartigen Aktionsform. Ein Interface erlaubt Screenshots und fordert Beschreibungen der jeweiligen Funde und Emotionen der Teilnehmer*innen. Ihnen allein obliegt es, zu verhandeln und zu verantworten, ob und wie sie die Möglichkeiten für eine ferngesteuerte Untersuchung nutzen.
Im Laufe des Experiments treten Robert Verch und ich nur hinter den Kulissen auf: als Wartungspersonal in einem nicht-öffentlichen Kontrollraum sehen wir alle von den Nutzer*innen erzeugten Kamerabilder sowie die Bilder einer Überwachungskamera in der Untersuchungszentrale selbst. Wir speichern sämtliche Daten des Untersuchungszeitraums.
Die Verhandlung
Nach Abschluss des Experiments setzen wir die digitalen und physischen Materialien der Untersuchung für unsere künstlerische Weiterarbeit ein. Verschiedene Lesarten und individuelle Zugänge der Nutzer*innen zu der speziellen Situation in der Wohnung des Herrn U. spielen dabei ebenso eine Rolle wie unsere eigenen Empfindungen im Verlauf der doppelten Überwachung im Kontrollraum.
Phase 1
In der ersten Verhandlungsphase empfangen wir die Gäste der Galerie Hinten mit einer stark veränderten Untersuchungsstation: Die Ausstellung soll dabei helfen, das Geschehene direkt am Ort des Geschehens aufzubereiten und zur Diskussion zu stellen. An den früheren Positionen der Monitore haben wir dafür von den Teilnehmer*innen des Experiments dokumentierte und beschriebene Gegenstände aus der Wohnung des Herrn U. eingesetzt. Der Drucker in der Mittelkonsole der Station ist verschwunden, stattdessen sind nun alle erstellten Protokolle als Akte einsehbar. Mit dem Aufsperren der Tür zum ehemaligen Serverraum gewinnen wir jetzt einen neuen Raum hinter der Fassade: Dort haben wir dem während einer Roboterfahrt umgerissenen Osterstrauß den entsprechenden Kameramitschnitt als Projektion gegenübergestellt.
Ein großer Bildschirm vereint die seltsam ästhetischen Aufnahmen einer Roboterfahrt durch die jeweiligen Sichtfelder der 9 stationär installierten IP-Kameras. Ins Hinterzimmer der Ausstellung haben wir einen Teil des improvisierten Mobiliars geschleppt, mit dem wir im nicht-öffentlichen Kontrollraum gelebt und gearbeitet hatten. Auf den Monitoren läuft jetzt eine Doppel-Video-Installation: Sie zeigt einen kurzen Ausschnitt paralleler Geschehnisse in der Untersuchungszentrale und dem Kontrollraum. Daneben haben wir handschriftliche Texte hinterlassen – als Auftakt für die Verhandlung legen Robert und ich hier Rechenschaft über unser eigenes Handeln im Untersuchungszeitraum ab.
Ich gestehe, mit sehenden Augen in die selbst gebaute Falle getappt zu sein. Ich habe mich geirrt, als ich glaubte, meine kritische Einstellung gegenüber jeglicher Form von Überwachung und verdeckter Kontrolle würde mich immun machen gegen den Sog, den die technischen Möglichkeiten dafür erzeugen.
Ich gestehe, dass ich mich ganz anders verhalten habe als ich im Vorhinein für richtig gehalten hätte und ganz anders als ich es von Anderen erwarten würde. Und ich gestehe, dass mich das nicht sonderlich beunruhigt.
Ich habe Menschen dazu angestiftet, mir dabei behilflich zu sein, Technik zu entwickeln und Türen zu öffnen.
Am 03. Mai 2014, zur Finissage der Ausstellung in der Galerie Hinten, veranstalten wir im Nachbarklub Lokomov ein offenes Diskussionsforum. Als Teil der Verhandlung sprechen wir zum ersten Mal über die Entdeckung der Wohnung durch den neuen Eigentümer des Hauses, über unsere künstlerische Idee und den langen Weg zur praktischen Umsetzung. Zusammen mit den Hackern von Chaos Chemnitz zeigen wir die wildesten Prozess-Fotos, Meilensteine bei der Roboter-Entwicklung und geben einen Überblick über unser finales technisches Setup. Dann betreten auch wir Neuland.
Wir hören Erlebnisberichte von Nutzer*innen, die kaum glauben können, dass sie mit dem Joystick einen realen Roboter durch echte Räume gefahren haben. „Ich dachte, dass sei ein Computerspiel mit hoher Latenz und sensationell animierten, umfallenden Gegenständen.“, sagt eine unfreiwillige Probandin. Ein anderer Nutzer erzählt spürbar konsterniert: „Ich bin als Tischler oft in fremden Wohnungen. Dann versuche ich wie mit Scheuklappen, die Privatsphäre der Leute nicht zu stören und meinen Blick nur auf meine Aufgabe zu richten. Wäre ich körperlich in dieser Wohnung gewesen, dann hätte ich mich wahrscheinlich ganz vorsichtig bewegt. In der Annahme, diese Umgebung sei nicht echt, ist mit mir die Kettensäge durchgegangen …“
Noch bis tief in die Morgenstunden loten wir mit dem Publikum die Grenzen dieser experimentellen Intervention aus.
Phase 2
Das Leben der Anderen weckt bis heute nicht nur persönliche, sondern auch staatliche und institutionelle Neugier. Allein die Vorstellung von anderem Leben treibt den menschlichen Wissensdrang zu aufwendigen Experimenten. Curiosity – englisch für Neugierde, Wissbegier aber auch Sehenswürdigkeit, ist nicht nur der Name des Erkundungsroboters auf dem Mars, sondern bezeichnet ebenso die Motivation der Mission. Dabei wirkt die Bezeichnung recht harmlos. Gucken kostet nichts, könnte man meinen. Doch es gibt keinen reinen Objektivismus, keine unbeteiligten Teilnehmer*innen. Die Marsmission bezahlen wir mit Weltraumschrott und mit der unwiederbringlichen Verformung des Ausgangszustandes. Während wir dort nach Spuren unbekannten Lebens suchen, hinterlassen wir ebensolche. Und so kann auch die Erforschung und Entdeckung der Wohnung des Herrn U. nicht spurlos an ihr vorübergehen. Fehler bei der Bedienung sind nicht rückgängig zu machen, die Untersucher*innen sind Eindringlinge und Beobachterinnen, Zeugen und Zerstörerinnen in gleichem Ausmaß.
Im November 2014 stellen wir Privatpersonen erneut eine Technologie zur Untersuchung der Wohnung zur Verfügung. Bei der cynetart, einem Festival für computergestützte Kunst, könnten wir keinesfalls verbergen, dass unser Experiment ein Kunstprojekt ist. Deshalb fokussieren wir mit unserem Ausstellungsbeitrag auf die Spuren der Spurenleser*innen: Wir entwickeln ein Interface in Anlehnung an Google Streetview, das alte und neue Untersuchungskommentare in einer kollektiven Geschichte zusammenführen könnte.
Gäste der cynetart betreten einen Raum mit riesigen Schaukästen, die aus alten Holzfenstern zusammengesetzt sind. In einem davon präsentieren wir unseren leicht lädierten Kamera-Roboter. Die sieben anderen Schaukästen stellen Gegenstände aus, die während der experimentellen Untersuchungsphase besonders ausgiebig beäugt oder gar beschädigt wurden. An der Stirnseite des Raums wartet ein Steuerpult und eine wandfüllende 360°-Panoramaprojektion auf Neugierige. Wer möchte, kann sich mittels Sprungpunkten, Drehbewegungen und stufenlosem Zoom in der virtuellen Wohnung frei bewegen und zwischen zwei Zeitebenen hin- und herschalten. In der Vorher-Ebene zeigt jeder der 9 Standpunkte hochauflösende Aufnahmen der Zimmer vom 04. April 2014 – bevor die ersten Proband*innen mit dem Roboter den Teppich auffalteten, Schuhe wüst im Flur verteilten und damit das Gesamtbild veränderten. In der Zeitebene vom 07. April 2014 werden die Aufnahmen nach dem letzten Eingriff sichtbar. Dieses Nachher erweckt einen ganz anderen Eindruck vom Verschwinden des Bewohners. Es sieht aus, als hätte es hier schwere körperliche Auseinandersetzungen gegeben. In der Nachher-Ebene sind alle Kommentare und Schlussfolgerungen der damaligen Untersucher*innen aufrufbar. Kleine blaue Punkte markieren die Stellen, die sie mit ihren Screenshots erfasst und in Protokollen beschrieben haben. In der aktuellen Ausstellungswoche kommen zahlreiche neue Punkte und Kommentare hinzu. Die zweite Phase der Verhandlung – mit physisch realen Exponaten und einer scheinbar allumfassenden virtuellen Repräsentation – nimmt ihren Lauf.