Die Auserwählten

Die Auserwählten
Performance
Institut für wahre Kunst
2011

Ein quadratischer Tisch wird von diagonal aufgestellten Trennwänden in 4 Callcenter-Arbeitsplätze unterteilt.

Nachdem wir von unserer Trainerin Anna Gänßler die wichtigsten Regeln zum Durchführen von Telefoninterviews, die Feinheiten der Stimm-Modulation und etliche Kniffe zum Überleben im offenen Telefon-Labor eingebläut bekommen haben, packen wir die Koffer für die schöne Stadt an der Saale. Dort angekommen, erwächst das Callcenter in Rekordzeit, die unsichtbare Technik hingegen spielt ihre Tücken bis ganz zuletzt aus. So werden schon beim Aufbau Retter und Heldinnen gesichtet – und etliche mäzenatische Verhaltensweisen zu Protokoll genommen. In letzter Minute ist die Internetverbindung halbwegs stabil, die Headsets sind eingepegelt und alle Kunstmarkt-Fallen beseitigt. Dennoch verzichten wir vor Dienstbeginn auf die empfohlenen Gurgelübungen und das Kopfkreisen im Schaufenster. Stattdessen betreten wir allmorgendlich den grauen Bannkreis mit frisch gefüllten Thermosflaschen.

aus dem Projekt-Tagebuch: Die Auserwählten

Nur verschwindend wenige freischaffende Künstler*innen können vom Erlös ihrer Arbeit leben – im Jahr 2010 wird ihr Anteil in Deutschland auf höchstens zwei Prozent geschätzt. Alle anderen müssen prekäre Zusatzjobs miteinander verstricken, während sie auf einen Lotteriegewinn warten oder für ein bedingungsloses Grundeinkommen kämpfen. Als freischaffende Künstlerinnen-Gruppe, die nicht von einer Galerie vertreten wird, sind auch wir gezwungen, uns um alle ökonomischen Fragen und die Finanzierung unseres Lebensunterhalts selbst zu kümmern. Auch wir stellen uns der Herausforderung zwischen Erwerbstätigkeit mit Nebenjobs auf der einen Seite und der künstlerischen Produktion und deren Vermarktung auf der anderen. Doch während die Vermarktung der eigenen Werke häufig mehr Zeit in Anspruch nimmt als die künstlerische Produktion selbst, wird dieser Balanceakt immer absurder: Unser Freigeist wird zum Unternehmen, das sich soziologischer und psychologischer Methoden bedient, um strategisch Ausschau nach möglichen Subventionspartner*innen zu halten. Die projektbezogene Kreativität mündet damit nicht in der Welt der Kunst, sondern das Akquirieren, Telefonieren und Organisieren wird zum eigentlichen schöpferischen Werk.

Video-Dokumentation mit Ausschnitten der 5-tägigen Performance

An dieser Stelle knüpfen wir als Institut für wahre Kunst mit unserem performativen Forschungsprojekt Die Auserwählten an und recherchieren zur Notwendigkeit mäzenatischen Verhaltens auf dem deutschen Kunstmarkt. Für eine Woche nehmen wir unbezahlten Urlaub von allen Nebenjobs und arbeiten ausschließlich als Telefonistinnen in unserem eigenen Callcenter. Akribisch wählen wir uns durch eine zuvor recherchierte, sehr lange Liste von Kunstmuseen, Stiftungen, Sammler*innen, Firmen, Banken, Kunstvereinen und Galerien. Für die Telefon-Interviews haben wir einen Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen erstellt, dessen Struktur wir auch als Leitfaden für die spätere Auswertung nutzen werden. Alle Fragen kreisen um das Rollenverständnis einer Mäzenin oder eines Mäzens sowie um das individuelle Engagement der angerufenen Personen in der Kunstförderung.

Während der Voice-Over-IP-Client die ersten Nummern des Tages anwählt, ist im Raum nur leises Räuspern und das Rascheln von Notizzetteln zu vernehmen. Kurz darauf jedoch vermischen sich die Stimmen zu einem Kanon aus höflichen Kontaktaufnahme-Floskeln, Terminvereinbarungsabsprachen und enthusiastisch artikulierter Fragebogen-Dramaturgie. Die Reaktionen sind überraschend positiv: Ein Großteil der angesprochenen „Personen, deren Arbeitsbereiche Berührungspunkte mit der Kunstförderung aufweisen“, legt echtes Interesse an den Tag und bemüht sich, konstruktive Antworten auf die offenen Fragen zu finden. Die Finger der Telefonistinnen flitzen über Papierbögen und Tastaturen, je nach Anschlagdynamik bebt häufig der ganze Tisch.

aus dem Projekt-Tagebuch: Die Auserwählten

Unser Projekt wirkt wie Selbstverteidigung im Schaufenster. Als Mini-Callcenter kehren wir einen der klassischen nicht-künstlerischen Zusatzjobs in eine künstlerische Tätigkeit um und rufen direkt im Geflecht aus Kunst und Markt an. Gleichzeitig sind wir an unserem Arbeitsplatz das zentrale Ausstellungsstück einer Galerie im Zentrum von Halle an der Saale.

Am 5. Arbeitstag, zum ersten Mal pünktlich nachmittags um fünf, beenden wir nachdenklich und eigentlich noch voller Fragelust das Telefonritual. Was bleibt, sind kreisförmige Kaffeeflecken auf weißer Tischplatte, pinke Haftnotizen an kreuzförmiger Trennwand und eine statistische Auswertung der 320 gewählten Nummern. Stellt sich nun die Frage, ob wir die gewonnenen Antworten in Diagramme und Zahlenkolonnen pressen oder uns einfach mal zu wahrer Mal-Kunst inspirieren lassen, die wir statt der ernüchternden Fakten in kleinen Häppchen an unsere Gesprächspartner*innen senden. Zum Vorzugspreis, versteht sich.

aus dem Projekt-Tagebuch: Die Auserwählten

Die Wege im Oktagon als technische Zeichnung: 8 Konturen formen bildfüllende, sich sternförmig kreuzende Balken. Dabei entstehen von außen bis zur Bildmitte mehrere Schnittpunkte zwischen den 8 Balken. Die äußersten 8 dieser Schnittpunkte sind gleichzeitig die Eckpunkte von einem regelmäßigen Achteck. Sie sind mit kleinen Kreisen markiert. Das Zentrum der großen Sternfigur bildet eine verkleinerte Version derselben Sternfigur. Sie besteht ebenfalls aus 8 balkenförmigen Konturen. Die Länge der kleinen Stern-Balken stimmt mit der Breite der großen Stern-Balken überein.

Arbeitsplätze und Trennwände als technische Zeichnung mit geometrischer Regelmäßigkeit.

Ist doch alles super: Das Leben am unteren Rand des Existenz-Minimums fordert Künstler einfach zu mehr Kreativität heraus – und Not macht schließlich erfinderisch! – Anonymer potentieller Sponsor, 2010